Im Zuge einer umfassenden Generalsanierung wurden die unterirdischen Bereiche der Karlsplatzpassage erneuert und einladender gestaltet. Mit den zeitgleichen Eröffnungen von Ernst Caramelles Installation und der Kunstpassage Karlsplatz hat ein ambitioniertes Projekt seinen Abschluss gefunden und der am stärksten frequentierte Verkehrsknotenpunkt der Stadt erstrahlt in neuem Glanz.
Ernst Caramelles Installation greift den transitorischen Charakter des Orts und dessen Geschichte auf. Zugleich wird damit der Karlsplatz zu einem zentralen Platz für Kunst im öffentlichen Raum und die umliegenden Kunstinstitutionen.
Mit Ernst Caramelles Installation erschließt sich für die PassantInnen in dem neugestalteten Korridor zwischen Oper und Naschmarkt, U1 und U2, Wien Museum und Secession ein neuer Blick. Statt der nebeneinander gereihten Geschäfte wie vor der Neugestaltung wartet die Passage nun mit einem einmaligen und außergewöhnlichen Bildszenario auf: eine gigantische Wandfläche mit in Fresco gemalten Farbfeldern, farblich fein nuanciert, was räumliche Tiefe verleiht. Eine davorliegende Glaswand sowie die dem malerischen Wandkomplex gegenüberliegende Passagenwand mit Teilverspiegelung sind wesentliche Bestandteile der Gesamtkomposition.
Ernst Caramelles Installation reagiert auf die architektonische Situation der langgezogenen Passage. Neue Symmetrien entstehen beispielsweise durch die asymmetrischen Farbfelder, die den Eindruck von Räumlichkeit erwecken, zusätzlich verstärkt durch die gegenüberliegende verspiegelte Wand. Die BetrachterInnen, die der Künstler in seine Arbeit miteinbezieht, erleben die Komposition auf immer andere individuelle Weise und aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Künstler lädt die PassantInnen dazu ein, ohne sie dabei im Fluss ihrer Gehbewegungen zu beeinträchtigen, sich intuitiv auf eine sinnliche Erfahrung von Formen und Farben einzulassen. Schon in den frühen 1980er-Jahren begann Ernst Caramelle mit derartigen topografischen Inszenierungen. Die großformatigen Raummalereien spielen mit Architekturdetails wie Wandöffnungen, Mauervorsprüngen und Putzdekor. In diesen Raummalereien, die in Caramelles Werk bis heute eine wichtige und stete Rolle einnehmen, setzt sich der Künstler konzeptuell mit dem Ort und den Räumen auseinander, für die er die Werke schafft. Farbige, streng geometrische Flächen bilden dabei die Ausgangsbasis. Die Wand wird quasi zum abstrakten Bild, das sich wiederum an die räumlichen Anforderungen anpasst: Wand als Abfolge von Sequenzen, Feldern, Farbfeldern und Mustern — aber auch als Bilderfolge, räumlicher Parallelweg, Partitur. Wand im Lichte ihrer Tiefenauflösung, ihrer Tiefenschichtung, ihrer Farbtiefe, der Tiefenlosigkeit ihrer monadenhaften Muster.
„Caramelles Arbeit ist [...] ein besonders explizites Beispiel für eine anamorphe Wandmalerei [...]. Bei diesem Ort handelt es sich um einen unterirdischen Verbindungsweg, der von vielen Menschen frequentiert wird, die gleichzeitig und in entgegengesetzten Richtungen durch den Korridor strömen. [...] Die Wahrnehmung einer Wandmalerei in dieser Situation ist eine abgelenkte und seitliche Wahrnehmung, eine Wahrnehmung aus dem Umgang heraus und nicht aus kontemplativer Distanz; sie ist eine Sache der Bewegung, der Nähe, der Alltäglichkeit, des Vorübergehens und der Flüchtigkeit, der Vertrautheit und des gleichzeitigen Fehlens von Verbindlichkeit. Im Wesentlichen ist Caramelles Malerei auf der langgestreckten Seitenwand des Fußgängertunnels auf acht Felder verteilt, die jeweils mit einfachen räumlichen Konstellationen besetzt sind, wie sie grundsätzlich schon zu Beginn der 1980er-Jahre entwickelt wurden. Dabei wechseln sich Felder mit frontalen und solche mit perspektivisch verzerrten Ansichten ab. Je nach Gehrichtung wirken sich diese Verhältnisse so aus, dass es scheint, als seien einzelne Wandteile aus der Flucht der Tunnelwand herausgedreht, um sich dem Gehenden entgegenzustellen, während andere Teile der gewohnten Perspektive angeglichen sind und wieder andere diese übersteigern. Die gesamte Konstellation ist auf die realen Verhältnisse der Benutzung ausgerichtet und erzeugt die Wirkung einer zickzackförmig aufgebrochenen Wand, damit auch die Empfindung einer räumlichen Erweiterung und einer Rhythmisierung der Bewegung. Das Gefühl von Erweiterung und Rhythmisierung wird dadurch noch gesteigert, dass sich die Wandmalerei schwach in der gegenüberliegenden Milchglaswand spiegelt, während zusätzlich eingesetzte Spiegel beim Vorübergehen einzelne Details momentan aufblitzen lassen. Interessanterweise sind die acht Felder der Wandmalerei annähernd symmetrisch angeordnet. Diese Symmetrie ist für die PassantInnen kaum wahrnehmbar. Sie gibt der Arbeit aber einen Halt, der das Vorübergleiten strukturiert, und steht für ein Moment der Frontalität ein, ebenso wie die frontal organisierten Arbeiten anamorphe Momente umfassen.“
Textauszug: Ulrich Loock, in: Kunst Passage Karlsplatz, S. 201.