Neben Roland Barthes (1915–1980), dem französischen Philosophen und Literaturkritiker, auf den das diesjährige Festivalthema von curated by in Wien, «Das Neutrale», zurückgeht, gibt es einen zweiten großen Abwesenden, an dessen Schaffen unsere Ausstellung erinnert, nämlich den kürzlich verstorbenen Künstler, Schriftsteller und Theoretiker des «White Cube», Brian O’Doherty (1928–2022). Ausgestellt ist der letzte Roman O’Dohertys, The Crossdresser’s Secret (2014). Die Titelgestalt des Romans ist Charles-Geneviève-Louis-Auguste-André-Timothée d’Éon de Beaumont (1728–1810), eine historisch verbürgte transgeschlechtliche Figur, besser bekannt als Chevalier d’Éon. O’Doherty hat sich in seinem künstlerischen Schaffen zeitlebens mit dem Konzept der Persona befasst, mehrere Alter Egos verwendet und unter deren Namen publiziert und ausgestellt. 2011, als O’Doherty seine verschiedenen Personae öffentlich machte, betonte er, dass die «angenommenen Namen alle etwas bewirkt haben», da sie ihm ermöglicht hätten, den «Mantel des Selbstseins abzustreifen» und auf gesellschaftliche Themen aus «einem anderen Blickwinkel zu reagieren». Das Zusammenführen unterschiedlicher Stimmen war auch ausschlaggebend für seine publizistische Arbeit. 1967 zeichnete O’Doherty als Herausgeber verantwortlich für eine Ausgabe des Aspen Magazine, die in Form verschiedener (Druck-)Medien in einer Schachtel erschien. Die Box enthält künstlerische, literarische, musikalische und wissenschaftliche Beiträge unter anderem von George Kubler, Susan Sontag, Samuel Beckett, William S. Burroughs, Alain Robbe-Grillet, John Cage, Morton Feldman, Tony Smith und Marcel Duchamp. Auch Roland Barthes’ Aufsatz «Der Tod des Autors», der von der Kunst des Lesens handelt, publizierte O’Doherty hier – ein Jahr vor dem französischen Original in englischer Übersetzung.
Neben einer Vitrine zu O’Doherty sind Leinwandarbeiten von zwei zeitgenössischen Künstlerinnen, Mia Sanchez und Gritli Faulhaber, ausgestellt. Mit großformatigen Siebdrucken auf roher Leinwand thematisiert Sanchez Kleidung als Ausdruck von Identität. Für ihre Arbeiten wurden die abgebildeten Kleidungsstücke einzeln fotografiert, das Arrangement der auf den Leinwänden zusammengestellten Outfits erfolgte im Druckprozess. Somit ist nicht jeweils die Garderobe einer Person abgebildet, sondern Sanchez beschäftigt sich mit den Codes, durch die Zugehörigkeit und Normierung vermittelt werden, und untersucht, wie sich diese Codes durch die identische Rasterung der Bilder und den monochromen Druck verändern. Die Leinwände zeigen neutralisierte Musterkollektionen. Eine Zuordnung zu bestimmten Gruppen ist nicht möglich, da sich diese über den gemeinsamen Stil (Farbe, Material, Schnitt, Gebrauch) definieren. Sanchez interessiert sich für die Figur des Konsumenten, der Konsumentin, und Methoden, sich als Individuum im Alltag innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen selbst zu ermächtigen.
Gritli Faulhaber bezeichnet sich als Künstlerin, die Malerei als Metier erforscht und als Malerin handelt. Dabei reagiert sie auf die vor allem männlich geprägte Malereigeschichte mit Strategien der Aneignung von Bildern von Künstlerinnen, der Thematisierung von Verwandtschaft sowie der Transformation und Neubewertung überlieferter Inhalte. Wir zeigen von Faulhaber Arbeiten aus einer neuen Gruppe kleinformatiger Porträts nach Frauenbildnissen von Künstlerinnen, jedes im malerischen Ausdruck unverkennbar ein heutiges Bild und ein mögliches Selbstbildnis. Sie reproduziert die historischen Arbeiten nach Abbildungen aus ihrem digitalen Archiv, um sie malerisch, aber auch emotional neu zu erleben, zu verstehen und zu beleben. Ein Merkmal ihrer Malerei ist die teils sichtbar belassene und teils mit weißer Ölfarbe bearbeitete Grundierung. Diese Partien rufen die Stofflichkeit von Malerei in Erinnerung, können aber auch als Ausdruck einer unfertigen, mit Bedacht offenen Form verstanden werden. Faulhaber thematisiert wie Sanchez Fragen der Zugehörigkeit, allerdings des gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexts, in dem sie als Künstlerin lebt und arbeitet.
Die Ausstellung ist als Skizze einer Topografie des Sehens angelegt, die eine vergleichende Wahrnehmung der Arbeiten befördert und Kunstvorschläge zur Diskussion stellt, die das Verhältnis von ästhetischer und alltäglicher Wahrnehmung wie auch jenes von Bild und Wirklichkeit zum Inhalt haben.
Featured Works
Mia Sanchez
Strategies (Socken), 2023
Siebdruck auf Leinwand
210 x 160 cm
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Mia Sanchez
Strategies (Cat-Dog), 2023
Siebdruck auf Leinwand
210 x 160 cm
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Mia Sanchez
Strategies (Karo), 2023
Siebdruck auf Leinwand
210 x 160 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Platin Pippa, Smart - Ass ?), 2023
Öl auf Leinwand
40,5 x 55,5 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Selbstbildnis Paula in zwei Formen), 2023
Öl auf Leinwand
30,5 x 48,5 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Lotte Laserstein, Baby Blue), 2023
Öl auf Leinwand
40,5 x 26,5 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Rosemarie Trockel, hier und doch nicht), 2023
Öl auf Leinwand
22,5 x 32,5 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Berthe, p is for primer but also for protection), 2023
Öl auf Leinwand
30 x 24 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Für Lili & Gerda), 2023
Öl auf Leinwand
40,5 x 26,5 cm
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Gritli Faulhaber
Les petits (Femme inconnue), 2023
Öl auf Leinwand
20,5 x 18 cm
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Brian O'Doherty
The Crossdresser's Secret (Section, Early Draft),
Lasergedrucktes Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen in Tinte
176 Seiten plus Deckblatt, 27,9 x 21,6 x 2,54 cm
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Brian O'Doherty
Aspen 5+6, 1967
28 nummerierte Teile: 1 Box mit 27 nummerierten Objekten: 1 Inhaltsverzeichnis, 1 Buch mit 3 Texten, 1 Super-8-Filmrolle mit 4 Filmclips, 5 Schallplatten mit 11 Aufnahmen, 8 Modelltafeln aus Karton, 10 gedruckte Texte, 1 Mappe mit 6 Werbeanzeigen. Redaktion und Gestaltung von Brian O’Doherty. Publiziert im Herbst/Winter 1967 bei Roaring Fork Press, New York City
Box: 20,9 x 26,7 x 5,5 cm
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Brian O'Doherty
A Mental Masquerade., 2018
When Brian O’Doherty was a female art critic: Mary Josephson’s collected writings
hg. von Thomas Fischer & Astrid Mania
Leipzig: Spector Books 2018
21 x 14 cm
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Brian O'Doherty
Tonnerre (Yonne) – Maison où est né le Chevalier Déon de Beaumont (1728-1810),
Agent politique de Louis XV, célèbre surtout par le costume de femme qu’il avait pris dans sa jeunesse.
Ansichtskarte
GRITLI FAULHABER, geboren 1990 in Freiburg im Breisgau, lebt und arbeitet in Zürich. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen zählen: Istituto Svizzero, Mailand (mit Costanza Candeloro) (2023); Sangt Hipolyt, Berlin (2020); Cherish, Genf (2019). Gruppenausstellungen (Auswahl): Sweetwater, Berlin (2023); Theta, New York (2022); Swiss Art Awards, Basel (2022); Kunsthalle Friart Fribourg, Freiburg (2022); Artgenève, Genf (2022); Fonda, Leipzig (2021); Galerie Lange + Pult, Zürich (2021); Kunsthaus Langenthal, Langenthal (2021); Kunstverein Leipzig, Leipzig (2020); Museum im Bellpark, Kriens (2020); Cité des Arts, Paris (2019). Faulhaber erhielt 2022 den Swiss Art Award und das Werkstipendium der Stadt Zürich. Sie war 2021 Artist in Residence in der Cité des Arts in Paris.
Als Mitbegründer der Conceptual Art und als Kunstkritiker hat Brian O’Doherty (1928–2022) die Kunstgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Nordamerika und in Europa mitgeprägt. Im deutschen Sprachraum ist O’Doherty durch sein Buch In der weißen Zelle (1995; engl. Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space, 1986) bekannt geworden. O’Doherty studierte zunächst in Dublin Medizin. In den 1960er-Jahren arbeitete er als Kunstkritiker für die New York Times. In den 1970er-Jahren war O’Doherty Herausgeber der Zeitschrift Art in America. Er lehrte bis in die 1990er-Jahre Film und Kunstkritik am Barnard College der Columbia University, New York, produzierte Filme über Künstler und hat mehrere Bücher zur amerikanischen Gegenwartskunst publiziert. 1967 veröffentlichte er Object and Idea. An Art Critic’s Journal, 1961–67, einen Band mit seinen gesammelten Kunstkritiken, 1974 folgte American Masters. The Voice and the Myth (dt. Kunst in Amerika. Maler unserer Zeit). O’Doherty schrieb auch Belletristik. 1992 kam The Strange Case of Mademoiselle P (dt. Der merkwürdige Fall der Mademoiselle P.) heraus und 1999 der Roman The Deposition of Father McGreevy (dt. Aufzeichnungen eines Landpfarrers), der 2000 in die engere Wahl für den Booker Prize gelangte. Zuletzt erschienen von ihm 2014 der Roman The Crossdresser’s Secret und 2019 A Mental Masquerade. When Brian O’Doherty Was a Female Art Critic: Mary Josephson’s Collected Writings.
MIA SANCHEZ, geboren 1988 in Sevilla, lebt und arbeitet in Basel. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen zählen: Kunsthaus Langenthal (2023); Istituto Svizzero, Mailand (2021) und Stadtgalerie Bern (2019). Gruppenausstellungen (Auswahl): Akademie der Künste, Berlin (2022); Kunstverein Potsdam (2022); Swiss Art Awards, Basel (2022); Sgomento Zuricho, Zürich (2022); der Tank, Basel (2021). Sanchez wurde 2020 mit dem Basel-Berlin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnet und erhielt 2022 den Swiss Art Award. Ab September wird sie am Stipendium des Istituto Svizzero Rom 2023/2024 teilnehmen.
ROMAN KURZMEYER, geboren 1961, ist Kurator der Sammlung Ricola und lehrt Ausstellungsgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel. 1999 gründete er den Ausstellungsraum Atelier Amden in der gleichnamigen Schweizer Berggemeinde. Er schreibt regelmäßig zur zeitgenössischen Kunst und war Mitherausgeber des Katalogs aller Ausstellungen von Harald Szeemann. Kürzlich kuratierte er im Kunstmuseum Liechtenstein Brian O’Doherty: Phases of the Self. 2004 wurde er mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet.
The exhibition takes place on the occasion of curated by 2023.