Am Anfang. Zu den neueren Gemälden von Helmut Federle
„Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens senden“ – das ist laut Wassily Kandinsky, der hier zustimmend Worte des romantischen Komponisten Robert Schumann zitiert, des „Künstlers Beruf“.[1] Aber was kann dies, bezogen auf die Malerei, eigentlich bedeuten? Ist die Malerei erhebend? Nicht immer. Ist sie spirituell? Nun, sie lässt sich so interpretieren, aber es ist Ansichtssache. Ist der Zustand der Menschheit im Wesentlichen lichtfern, nur durch den Balsam der Kultur zu heilen? Sind wir zur Schwermut prädisponiert? Steht Lichtferne für die Ignoranz und das Licht für die Erkenntnis? Die von Kandinsky zitierten Worte provozieren so viele Fragen.
Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens senden, heißt: wie Gott handeln. Denn Gott erschuf das Licht. Das Erschaffen des Lichts war der erste schöpferische Akt nach der Ausformung des Himmels und der Erde. בְּרֵאשִׁית [bereshit] – wortwörtlich im Anfang – das hebräische Wort für Genesis. Und Gott sah, „dass das Licht gut war“, eine Kraft des Guten. Deshalb „schied Gott das Licht von der Finsternis“. Das Erschaffen des Lichts und alles, was darauf folgte, war ein iterativer Prozess, einer des Ausführens, des Evaluierens und des sich daraus ergebenden Handelns. Es war ein künstlerischer Akt.
Von dieser Idee eines Anfangs und eines Anfangens findet sich etwas in den jüngsten kleinformatigen Gemälden von Helmut Federle wieder. Sie stellen einen Prozess des Werdens, der Formfindung, des Sich-Ausformens dar – das Zusammenkommen von Strichen und Markierungen, die das Potenzial eines Etwas eher als das Zustandekommen eines fertigen, vollendeten Produkts andeuten. Oder vielleicht suggerieren sie den Zerfall einer Form, deren Zusammenbruch, und damit ein Ende. Federle trägt die Farbe mit Lappen auf, wäscht sie weg, wenn das Ergebnis ihn nicht zufriedenstellt, überlässt es dem Wasser, eine angemessene Wirkung zu erzielen, und lässt die Gespenster des Scheiterns inmitten der überbleibenden Reste ausharren. In diesen Arbeiten scheidet sich zwar die Finsternis vom Licht, aber es vollzieht sich weniger ein Wettstreit zwischen ihren Kräften als eine sich stets entwickelnde Situation, ein kontinuierlicher Prozess der Verwandlung. Wie Maurice Merleau-Ponty über Cézanne in seinem Essay „Le doute de Cézanne“ [Cézannes Zweifel] schreibt: „Er wollte die Materie im Moment des Sich-Form-Gebens darstellen – die Geburt der Ordnung aus spontanem Sich-Organisieren.“[2]
Federles jüngste Gemälde sind markant anders als diejenigen aus früheren Serien wie Edelweiß oder Basics on Composition, die sich durch ihre genauen, eindeutigen Formen und ihre feste Farbgebung auszeichnen. Die Gewissheiten der frühen Gemälde weichen nunmehr dem Zweifel, einem Im-Dunkeln-Tasten nach etwas, nach Bedeutung vielleicht, nach Poesie, nach dem, was in einem Pinselstrich mitschwingt, in dem Auftrag von Farbe oder deren Entfernung, in dem Schaffen eines Bildes oder dessen Wegwischen, in der Übersetzung einer Erfahrung, eines Gedankens oder eines Gefühls in Farbe. Sosehr diese Gemälde mit ihrer Vorliebe für das Instinkthafte sowie mit einer gewissen Zen-nahen Formsprache an die Malerei der 1950er Jahre – an Jackson Pollock oder Henri Michaux – erinnern, so liegen ihre Wurzeln ebenso in Federles früherem und frühestem Schaffen und lassen sich bis in die späten 1950er Jahre zurückverfolgen.
Man denke etwa an die Gebirgsmotivik einer bereits um 1958 geschaffenen, jugendlichen Arbeit auf Papier, an die abstrakten Bilder der 1970er Jahre, an Gemälde des Ursprünglichen und Uranfänglichen wie etwa Innerlight (HRI) aus dem Jahr 1985 sowie Gullfoss (The Death) von 1984, die beide eine ausgeprägte Anmutung des Numinosen oder der Offenbarung vermitteln. Dorthin, so denke ich, tendiert Federles Œuvre. In Richtung Erkenntnis (wenn nicht Offenbarung). In Richtung eines Sehens, eines Fühlens. Wir haben es hier nicht mit einer Malerei des Erhabenen zu tun, sondern mit intimen Gedankengängen, etwa zum Thema Sterblichkeit, Beenden, allmählicher Verfall – mit bruchstückhaften Erinnerungen, die sich plötzlich aufdrängen, um genauso rasch zu entfliehen, zu entschwinden, bevor sie sich überhaupt gänzlich erfassen lassen. Die Gemälde treten uns nicht in vollausgeformter Gestalt entgegen, ihre Bedeutung ist nicht präkonzipiert, sondern noch im Entstehen. Sie entspringen einem Nicht-Wissen. Wie es Merleau-Ponty einmal formulierte: „Der Künstler lanciert sein Werk, wie auch der Mensch einmal das erste Wort lanciert hat, nicht wissend, ob es je mehr als ein Schrei werden wird.“[3] Der Künstler offenbart das Verborgene und lässt es in der Welt vibrieren und erklingen, in der Hoffnung, so auf die Welt Licht zu werfen und sie zu erhellen.
Federle hat seiner Ausstellung den vieldeutigen Titel „Acknowledgement“ [Zurkenntnisnahme, Bekenntnis, auch Danksagung] gegeben. Was wird hier aber zur Kenntnis genommen? Die Sterblichkeit vielleicht, die schwierige Suche nach Sinngebung in der Kunst wie auch im Leben, der Preis, der für die unentwegte Verfolgung von Zielen zu bezahlen ist, die Widersprüche, die seinem multivalenten Ansatz innewohnen. Oder bekennt sich der Künstler zu seinen binären Wurzeln in der US-amerikanischen Kunst wie in der fernöstlichen Kultur? Man hat es hier mit dem zu tun, was Umberto Eco als opera aperta (offene Werke) bezeichnete.
[1] Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei. München: Piper, 1912, Einleitung, S. 7; vgl. Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Leipzig, 1854, Bd. IV, S. 278.
[2] Maurice Merleau-Ponty, „Le doute de Cézanne“ (1945), in: Sens et non-sens, Paris 1964, S. 20.
[3] Maurice Merleau-Ponty, „Le doute de Cézanne“, S. 26.