In einer der kostbarsten Ecken des Clark County Historical Museum in Vancouver befindet sich die kleine Bibliothek “Brautigan”, in der unpublizierte Manuskripte aufbewahrt werden. Sie nimmt nicht mehr als eine Wand ein und bietet dennoch einer Vielzahl unveröffentlichter Bücher Platz. Diese Bibliothek gleicht exakt jener im Buch “The Abortion - An Historical Romance 1966”, das von Richard Brautigan – daher der Name – verfasst wurde. Ein Schriftsteller, der seinen Erfolg der Vorahnung seines eigenen Scheiterns verdankte. Die Enttäuschung, so Brautigan, sei der sicherste Ort, den er je gekannt habe, dem ihm niemand als Spitzenplatz streitig machen könne. Die im Buch beschriebenen Regale sind gefüllt mit Ablehnungen, Seiten über Seiten, die in jenem Stadium des Manuskripts erstarrt sind, zu dem noch etwas Schlimmeres als die Ernüchterung der Nichtveröffentlichung hinzukommt: der oft ebenso ungerechte wie endgültige Urteilsspruch des eigenen Versagens. Bücher also, die nicht existieren.
Vergleichbares geschieht in den Regalen von Ignasi Aballís Atelier. Wie in dem Raum mit den aufgegebenen Romanen leben auch dort verschiedene Geisterwerke. Es handelt sich um gescheiterte Versuche, einige seiner Bilder zu vollenden. Viele davon sind monochrome Werke, die ihm jahrelang dazu gedient haben, über das Konzept von Farbe und dessen Bedeutung zu reflektieren. Nun hängen sie ohne Keilrahmen an der Wand, Profil und Rückseite offenbarend, mit den Spuren der Klammern, durch die sie an den Holzkonstruktionen befestigt waren. Einige sammeln zu viel Farbe an, manche hingegen fangen verschiedene Töne derselben Farbe ein und wieder andere weisen bestimmte optische Veränderungen aufgrund der Dichte der Pinselstriche auf. Jene mit einer schlechten Grundierung sowie einem spröden Firnis fanden Eingang in Aballís Werkserie Pieles. Andere mit einer unregelmäßigen Grundierung wurden Teil seiner bekannten Rótulos. Es sind Arbeiten, die nicht sorgfältig genug ausgeführt wurden, die vor ihrer Vollendung in der Schwebe gehalten wurden und die mehr Zweifel als Wagnis in sich tragen. Sie alle haben mehr oder weniger einen temporären Prozess des Irrtums, der Ablehnung, des Verwerfens oder des Aufgebens durchgemacht, bis sie nun eine neue, passende, vielleicht sogar richtige Bedeutung für den Künstler bekommen haben. Es sind Ideen und Konzepte des Irrtums und der Korrektur, die Aballí während seiner gesamten Karriere beschäftigt haben und die in direktem Zusammenhang mit dem Projekt Corrección für den spanischen Pavillon in Venedig auf der 59. Biennale 2022 stehen.
In der Ausstellung, die ebenfalls von der Idee des Irrtums ausgeht, ist die Beziehung zwischen dem eigenen Versagen und dem Scheitern mindestens genauso eigenwillig. Das Wesen des eigenen Versagens macht es unmöglich, der Realität des Scheiterns zu entsprechen. Das Scheitern an sich kann praktisch nicht als eigene Entität existieren, es kann lediglich als Ergebnis eines Prozesses betrachtet werden, der eine Verwirklichung voraussetzt. Die zuvor verworfenen Gemälde können also niemals als per se gescheitert betrachtet werden, da sie – nicht vollständig umgesetzt –, dem Wesen eines Versagens angehören. Infolgedessen hängen sie also direkt von der Nichtvollendung eines Prozesses ab und sind somit davon befreit, irgendein Ergebnis zu präsentieren, eine Beurteilung oder einen positiven oder negativen Kommentar abzugeben. Das Wesen des Versagens ist nicht gleichbedeutend mit dem Akt des Scheiterns, so wie das Aufgeben während einer Schachpartie das sportliche Ergebnis ausschließt: Während das Scheitern nämlich zum Schachmatt und damit zum Ende des Spiels führt, überführt das Wesen eines Versagens das Schachspiel in eine Situation ohne Tragweite. Folglich markiert das Scheitern, anders ausgedrückt, einen Abschluss, eine negative Konklusion, aber dennoch eine Konklusion; es bezeichnet einen Prozess, der sein logisches Ende erreicht hat, während dem Wesen des Versagens eine Dysfunktion innewohnt, die das Projekt bereits in seinem Verlauf und seiner Entwicklung stört und dadurch jeden Abschluss verhindert.
In Anlehnung an Brautigans Bibliothek des Unrealisierten, des nie Stattgefundenen, archiviert Ignasi Aballí dementsprechend das Versagen des eigenen Scheiterns. Die Ausstellung Wrong, Rejected, Discarded, Abandoned and Finally Exhibited Paintings ist eine Manifestation dessen: eine Sammlung von mangelhaften Gemälden, die der Künstler in Erwartung der idealen Präsentationsmöglichkeit aufbewahrt hat. Auf den ersten Blick erzählt die Ausstellung von all jenem, was nicht ans Tageslicht kommen sollte. Hier sind es Produktionsfehler, in anderen Arbeiten können es ungeordnete, verblasste und unverbundene Diapositive berühmter Kunstwerke sein, die so eine alternative Kunstgeschichte erzählen (Historia del arte, 2016); es kann die Abbildung von Räumen eines Museums sein, das eigentlich für die Öffentlichkeit geschlossen ist (0-24h, 2005), oder ein leeres Bücherregal mit morschen Brettern (Libros, 2000). Nach eingehender Betrachtung zeigen sich trotz unterschiedlicher Aspekte der einzelnen Arbeiten jene Hauptthemen, von denen Ignasi Aballís Werk seit einem Jahrzehnt handelt: von der Reflexion darüber, was ein Bild ist, bis zur Hinterfragung der Konventionen von Kunst und Repräsentation; vom negativen Impuls als treibende Kraft bis zum Widerspruch als Ausgangspunkt; von diesem Drang, die traditionellen Grenzen der Materialien zu erweitern, bis zur Untersuchung, wie diese sich in etwas anderes transformieren können. Ignasi Aballís Werk macht keine Zugeständnisse. Es zelebriert die minimale Geste und den vorprogrammierten Zufall und lädt uns zum Innehalten und Betrachten ein.
IGNASI ABALLÍ, geboren 1958 in Barcelona, Spanien, lebt und arbeitet in Barcelona. Studium der Bildenden Kunst an der University of Barcelona.
Aballí nahm an der Biennale in Venedig (2022), der Biennale Cuenca (2016), der Guangzhou Triennale (2012), der Sharjah Biennale (2007), der Biennale in Venedig (2007) und der Biennale von Sydney (1998) teil. 2015 wurde ihm der Joan Miró Preis verliehen.
Ausgewählte Einzelausstellungen: Meadows Museum, Dallas, Texas (2022), Blueproject Foundation, Barcelona (2019); Museum of Contemporary Art, Zagreb (2018); Museo de la Universidad Nacional de Colombia, Bogotá (2017); Joan Miró Foundation, Barcelona (2016); Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2015); Pinacoteca do Estado, São Paulo (2010); Joan Miró Foundation, Barcelona (2008); ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe (2006); Serralves Museum, Porto (2006); MACBA Museo de Arte Contemporáneo de Barcelona, Barcelona (2005).
Ausgewählte Sammlungen: Artium Centro Museo Vasco de Arte Contemporáneo, Vitoria-Gasteiz; Centre d‘Art La Panera, Lleida; CAAC Centro Andaluz de Arte Contemporáneo, Sevilla; Colección Banco de España, Madrid; Ellipse Foundation-Contemporary Art Collection, Cascais; Fundació Vila Casas, Barcelona; Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid; Museo Patio Herrerianode de Arte Contemporaneo, Valladolid; MACBA Museo de Arte Contemporáneo de Barcelona, Barcelona; Museu de Granollers, Barcelona.
BEA ESPEJO ist Kunstkritikerin und Kuratorin.
Sie hat an der Universität Barcelona Kunstgeschichte studiert und einen Masterabschluss in Kunstkritik und Kommunikation an der Universität Gerona. Espejo ist Direktorin des künstlerischen Ausbildungsprogramms Madrid45 der Stadt Madrid und leitet den Themenbereich Kunst der Babelia-Beilage der Zeitung El País. Sie hat zahlreiche Ausstellungen organisiert und kuratiert und war Mitglied im Team der Galerien Estrany-de la Mota (Barcelona) und Urroz Proyectos (Madrid). Ihr letztes größeres Projekt, gemeinsam mit Ignasi Aballí, war Correction für den spanischen Pavillon der 59. Biennale in Venedig.