Joëlle Tuerlinckx verwendet Materialien, die den Status von Archivalien einnehmen. Zeichnungen und Fundobjekte, Papiere, Zeitungsausschnitte, Fotografien und Filme verbindet sie zu collagen- und skulpturhaften Arrangements. Tuerlinckx' Werke sind variabel und nur für den Augenblick fixiert, sie unterliegen einem dauernden Prozess von Zitaten, Wiederaufnahmen und Re-Adaptationen. Für Tuerlinckx ist dabei entscheidend, dass sich die Situation des Ateliers grundlegend verschieden, ja sogar antagonistisch zur Situation einer Galerie oder eines Museums verhält, wo die Materialien exponiert werden. Um diesem Umstand gerecht zu werden, transferiert Tuerlinckx architektonische Zitate ihres Ateliers wie Mauern oder Farbproben an den Atelierwänden in die Ausstellungssituation.
Nach Tuerlinckx ist der beste Platz im Raum sein Rand, „niemals das Zentrum“. Es ist ein Entleeren des Raums, den sie als von außen betrachtetes Volumen versteht, um seinem Repräsentations-charakter zu entgehen. Die sich nun entwickelnde Expositur der Fakten und Gedanken hat hypothetisch Unendlichkeitscharakter, das Werk stellt sich als Situation her, nicht als Objekt, Bild oder Ausdruck. Dabei werden die Maßstäblichkeit von Räumen und die Messung von Zeit relativiert.
Ausgangspunkt ihrer Ausstellung Les Salons Paléolithiques ist das Handnegativ einer Höhlenmalerei aus Pech Merle im Südwesten Frankreichs, eine Kopie davon fand sich in Tuerlinckx Archivalien. Diese etwa 15 000 vor Christus entstandene „Paläolithische Hand“ spannt zum einen Tuerlinckx‘ gedankliche Zeitachse auf, auch klingen Archaismus und das Faktum des Manuellen mit an. Auf dieser Zeitachse – und aktualisiert im Ausstellungskontext – gewinnen Archivalien den Status des Prähistorischen, Skulpturen werden zu Präskulpturen.
Zum anderen bringt die „Paläolithische Hand“ als Negativ das Bild eines abwesenden Objekts ins Spiel. Wenn sich Tuerlinckx die Urgeschichte als objektlos vorstellt bzw. als Zeitalter abwesender Objekte – „ein Objekt ist nicht das, was man hat, sondern das, was man verliert“ – bezieht sie sich auch im psychoanalytischen Sinn das Objekt des Begehrens, das wesenhaft unerreichbar ist. So werden in der Ausstellung manche Materialien als abwesende inszeniert wie zum Beispiel ein Wanderstab, der nur als Negativ auf einem Sockel positioniert ist, manche Materialien werden als „Möglichkeit“ in punktierten Umrissen angedeutet, andere nur in Konturen.
Ein mögliches Ordnungssystem der Archivalien lässt Tuerlinckx im Motiv des Astes anklingen, als Verweis auf die Idee des Stammbaum- bzw. Evolutionsdiagramms. Gemeint ist hier nicht das Modell eines Baumes mit dem Menschen als Krone der Schöpfung, sondern vielmehr das der Koralle, die Darwin zur Beschreibung seiner Evolutionstheorie diente. Demnach verläuft die Evolution wuchernd, unhierarchisch, bildet Querverbindungen, hat offene Enden und erfasst historisch die ausgestorbenen Arten. Tuerlinckx‘ System gleicht diesem Korallen-Modell, sie ist Archivarin von erstaunlich poetischer Assoziationskraft, die – wie es in Träumen geschieht – vergessene oder verworfene Objekte reaktiviert und ihnen Gleichwertigkeit verleiht.