Panta rhei, alles fließt. Der Grundgedanke in Heraklits Lehre ist das Axiom, demgemäß alles fließt und nichts in einem unveränderlichen Zustand verbleiben kann. Obwohl uns die Welt stabil erscheint, ist unsere Existenz einer fortdauernden Veränderung unterworfen. Anders gesagt, man kann nicht zweimal in den selben Fluss steigen: tatsächlich ist das Wasser nicht mehr dasselbe und man selbst ist ein anderer geworden. Diese Beobachtung zeigt die Kontinuität der Dinge und macht uns zugleich den einmaligen und unersetzbaren Charakter des Augenblicks bewusst.
Sheila Hicks wurde 1934 in Nebraska geboren und lebt seit mehr als 50 Jahren in Paris. Sie sieht Kunst und Leben als ein und dieselbe Bewegung, in einer fließenden und offenen Beziehung. Bei ihr werden Träger und Material eins, auch die Farbe. Wenn ganze Bündel von Leinenschnüren sich schwindelerregend von der Decke stürzen und am Boden ausbreiten, kommt es zu einer veritablen Entfaltung von Farbe im Raum. Die einst noch zart sprudelnde Quelle entwickelt sich zu einer chromatischen Kaskade, die sich regelrecht in einen Strom verwandelt, doch bleibt das Werk immer im Einklang mit dem Ort, den es bespielt.
Seit den 1960er Jahren arbeitet Sheila Hicks an der Schnittstelle von Kunst und Kunsthandwerk. Sie sieht ihre Arbeit gleichermaßen als Prozess und Resultat und führt folglich die Philosophie der Wiener Werkstätte fort. Gegründet im Jahr 1903, verschrieb sich diese Wiener Künstlervereinigung in erster Linie dem Ziel, die Ästhetik der Moderne für jedermann zugänglich zu machen, indem sie das Kunsthandwerk mit den schönen Künsten in Einklang brachte. Hicks‘ Arbeit steht in einer langen, bis zu den präkolumbianischen Textilien zurückreichenden Webtradition. Jedes ihrer Werke ermöglicht eine immer wieder neue und unerwartete Erfahrung und führt somit den Betrachter auf das Erleben des Augenblicks zurück.
Die Überschreitung von Grenzen ist auch bei Judit Reigl der Fokus ihrer künstlerischen Anliegen. 1923 in Ungarn geboren, flieht sie heimlich vor den Fängen des Stalinismus und kommt 1950 nach Paris, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Der technische Aspekt ihrer Werke ist von besonderer Bedeutung: Reigl bearbeitet ihre Leinwände mit selbst hergestellten Instrumenten und geht sogar so weit, ihren eigenen Körper zum direkten Auftrag der Farbe auf dem Bildträger zu verwenden.
Auf fließende und natürliche Weise oszilliert Reigls Werk zwischen Abstraktion und Figuration. Sie befreit ihre Bilder aus den Zwängen der traditionellen Malerei, indem sie Irrationalität und Unvorhersehbarkeit der künstlerischen Geste als Teil ihrer Arbeit integriert. So haben zum Beispiel die Bilder der Serie Déroulement weder Anfang noch Ende, weder Oben noch Unten, keine anderen Grenzen als jene des feinen Baumwolltuchs, das von der Farbe durchtränkt und von ihr in Besitz genommen wird. Die Farbe verschmilzt mit dem kreativen Akt, der sie bestimmt, und trägt seine Spuren und Rhythmen lebendig weiter. Wie das Wasser bei Heraklit ist auch bei Judit Reigl die fließende Materie ständig in Bewegung: sie sammelt und entfernt sich, wird fassbar und löst sich wieder auf. Die enge Verflechtung von heterogenen Elementen, welche in der Arbeit der Malerin immer präsent sind, erinnert an das Brodeln und die multikulturelle, oft gegensätzliche Vielfalt, die Wien zu Beginn des letzten Jahrhunderts kennzeichneten.
SHEILA HICKS, geb. 1934 in Hastings, Nebraska, lebt und arbeitet in Paris. Ausgewählte Einzelausstellungen: 2018 Centre Pompidou, Paris; 2015 Hayward Gallery, London; 2011 Boijmans van Beuningen Museum, Rotterdam; The Museum of Decorative Arts (UPM), Prag; 1999 Contemporary Art Center of Virginia, Virginia Beach; 1994 Textile Museet, Boras, Schweden; 1974 Stedelijk Museum, Amsterdam; 1963 Art Institute of Chicago. Ausgewählte Sammlungen: Centre Pompidou, Paris, Denver Art Museum, Musée des Arts Décoratifs, Paris, Museum für Gestaltung, Zürich, Museum of Modern Art, New York.
JUDIT REIGL, geb. 1923 in Kápuvar, Ungarn, lebt und arbeitet in Paris. Ausgewählte Einzelausstellungen: 2018 Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris; 2014 Ludwig Museum, Budapest; 2010 Musée des Beaux-Arts, Nantes; 2005 Múcsarnok Kunsthalle, Budapest; 1989 FRAC Auvergne, Clermont-Ferrand; 1978 Musée de Peinture, Grenoble. Ausgewählte Sammlungen: Albertina, Wien, Fonds national d'art contemporain, Musée de Grenoble, Centre Pompidou, Paris, Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, Guggenheim Museum, New York, Museum of Modern Art, New York, The Metropolitan Museum of Art, New York, Tate Modern, London.
The exhibition takes place on the occasion of curated by_viennaline 2018.