In Jessica Stockholders ortsbezogenen Arbeiten durchkreuzt eine erfundene die reale Welt. Die Künstlerin bedient sich vertrauter Objekte – ihrer Farbe, ihres Maßstabs und ihrer Materialität –, um Kompositionen zu schaffen, die mit der Umgebung in einen Dialog treten. In ihrer Skulptur für den Kunstplatz Graben mit dem Titel Slip Slidin’ Away verweisen die Formen eines Autos, einer Straßenlaterne und einer Fahne oder Rutsche auf Dinge, die den öffentlichen Raum besetzen. Autos befördern Menschen und Güter, Laternen machen die Nacht zum Tag, und Fahnen signalisieren Zugehörigkeiten. Als Teil des historischen Zentrums der Stadt ist der Graben allerdings nicht nur ein Ort der Geselligkeit und des Kommerzes, sondern auch der Repräsentation: Er vermittelt Besucherinnen und Besuchern das Bild einer Stadt mit Geschichte – einer Stadt, in der im 17. Jahrhundert die Pest wütete und die vom Katholizismus geprägt ist, wie die öffentlichen Monumente in unmittelbarer Nähe bezeugen. Im Unterschied zur Pestsäule und den beiden Brunnen jedoch, die das Stadtbild seit Jahrhunderten prägen, operiert Stockholders Skulptur bewusst mit Momenten der Instabilität. Der Titel der Arbeit spielt sowohl auf einen Song von Paul Simon an, der von den Unwägbarkeiten des Lebens handelt, als auch auf ein sogenanntes Slip’n Slide, eine Plastikfolie für den Außenbereich, die mit Wasser besprüht zur glitschigen Oberfläche wird, über die gerutscht werden kann.
Die Oberflächen des modernen Lebens, die – von metallischen Autokarosserien bis zu spiegelnden Fenstern, von reflektierenden Sonnenbrillen bis zu bunten Gummistiefeln – selbst den ehrwürdigen Graben durchsetzen, stehen im Mittelpunkt von Stockholders künstlerischem Interesse. Ihr verführerischer Glanz steht für das Neue, für raschen Wandel, aber auch für massenproduzierte Austauschbarkeit und eine Mentalität des Wegwerfens. In Slip Slidin’ Away bedient sich Stockholder dieser Assoziationen, ohne zu werten: Sie sucht ganz im Gegenteil nach den lustvollen und sinnlichen Dimensionen des Daseins in einer massenreproduzierten Landschaft – dies nicht zuletzt durch gezielte Eingriffe in deren Funktionalität. So dient ihre „Fahne“ eben auch als Rutsche, über deren glatte Oberfläche Wasser tröpfelt; ihre „Straßenlaterne“ wird mittels eines überdimensionierten Sockels zu einem öffentlichen Monument; und ihr „Auto“, dessen Lichter den Blick wiederum auf den Sockel lenken, stellt sich als exzentrisches Komposit aus nicht zusammengehörigen Einzelteilen dar. Auf ähnliche Weise rührt das geometrische Bodenbild an die normativen Aspekte modernen Lebens und hebelt diese gleichzeitig aus: Als irreguläre Form, die aus einem regelmäßigen Raster ausgeschnitten scheint, legt sich das Bild quer über die Rasterung der Pflastersteine; seine konkaven Kurven öffnen sich dem urbanen Umraum.
Aber auch die destabilisierenden Effekte einer Gesellschaft, deren Techniken, Konventionen und Werte sich rapide verändern, sind Thema von Slip Slidin’ Away. Je nach Standpunkt und Tempo der Passantinnen und Passanten fügen sich die Elemente der Arbeit zu kohärenten Bildern, nur um ebenso schnell wieder auseinanderzufallen. Im Gegensatz etwa zur Pestsäule, deren symmetrisch geschlossener Aufbau seit Jahrhunderten Orientierung bietet, adressiert uns Stockholders Skulptur auf gänzlich andere Weise. Asymmetrien und multiple Perspektiven machen Slip Slidin’ Away zu einer Projektionsfläche für die Arbeit der Imagination, ohne uns jedoch unsere körperliche Existenz – die materielle Grundlage unseres Denkens und Fühlens – jemals vergessen zu lassen. Den sowohl bildhaften als auch performativen Charakter dieser Art der Erfahrung markiert die Form eines „Wegweisers“: Dem Sockel und dem Auto beigestellt, reflektiert dieser auf der einen Seite die Umgebung und zeigt auf der anderen eine Luftaufnahme der Szene. Im Wechselspiel von malerischen und skulpturalen Qualitäten, von Volumina und Flächen präsentiert sich Slip Slidin’ Away als eine Schnittstelle, in der das Tatsächliche und das Mögliche aufeinandertreffen. Auf etwas Ähnliches mag auch Stockholder mit folgender Aussage abgezielt haben: „Wir Menschen verwenden Metaphern, um uns in komplizierten abstrakten und konkreten Strukturen einrichten zu können“, so die Künstlerin. „In diesem Sinn ist Form für mich voller Bedeutung.“